Kulturelle Geschichte Oberndorfs

Wir leben Vielfalt! - Migration und Integration. In Oberndorf schon immer?!

Ein Text von Andreas Kussmann-Hochhalter

Was ist der „homo oberndorpensis“? Ein rassereines Urgewächs oder eine migra­tionshistorische Promenadenmischung?
„Am Anfang [war] die Erde wüst und leer…“ Was der biblische Schöpfungsbericht global ausdrücken will, gilt, leicht abgewandelt, regional auch für Oberndorf und Um­gebung. Vor Urzeiten boten der raue Schwarzwald und das enge Neckartal keinen günstigen Lebensraum. Allererste winzige Spuren menschlicher Existenz finden sich hier erst etliche Jahrtausende, nachdem Steinzeitmenschen anderswo bereits zahlrei­che Kunstwerke geschaffen und in den Höhlen der Schwäbischen Alb zurückgelas­sen hatten.

Die sogenannte „Helvetier-Einöde“ hinterließ ein hier siedelnder keltischer Stamm, die Helvetier eben, die ins sonnige Gallien auswandern wollten und von Caesar ins heutige schweizerische Territorium abgedrängt wurden. Knapp zwei Jahr­hunderte später stießen dann die Römer selbst durch den Schwarzwald zum Neckar vor. Diese römische Soldaten, die eher aus Gallien, Britannien, womöglich auch aus Nordafrika als aus Rom selbst stammten, lebten für wiederum fast zwei Jahrhunderte im friedlichen Miteinander mit den einheimischen Neckar-Sueben, die irgendwann einmal aus Ostdeutschland eingewandert waren. Mit dieser blühenden Harmonie ging’s zu Ende, als Wirtschaftsflüchtlinge hier einfielen: Stämme, wiederum aus dem Osten, drangen im Zuge der Völkerwanderung ein und vermischten sich mit den Ein­heimischen. Diese Alamannen gerieten allmählich unter die Vorherrschaft der weiter nördlich lebenden Franken, und ihre zwangsweise Christianisierung markiert unge­fähr den Übergang von der Spätantike zum Mittelalter. Die christlichen Mönche, des Schreibens kundig, notieren Anno Domini 782 erstmals den Namen eines kleinen Dorfes: „Obarindorf“.

„Was ist der Oberndorfer Vaterland?“ Alamannien oder Schwaben? Selbst der Name des für Stammesherzogtums, zu dem sie gehörten, wechselte im Hochmittelalter seinen Namen. Mit dem Untergang der Staufer zerfiel kurz vor 1300 das ohnehin eher ohn­mächtige Herzogtum, und die zahlreichen nachrangingen Fürsten zer­pflückten es und machten den deutschen Südwesten zu einem territorialen Flicken­teppich. Oberndorf und Umgebung kamen so im Jahr 1381 an die Österreicher. Diese wiede­rum verliehen, verpachteten, verpfändeten ihren Besitz immer wieder an andere Fürsten.

Die Herren wechselten – das Volk blieb. Diesem schlecht zugänglichen, wenig fruchtbaren, insgesamt kaum verlockenden Land zwischen Schwarzwald, Alb und Baar bescherten vor allem Kriege und Krisen Bevölkerungsbewegungen und Migra­tion. Das waren insbesondere der Dreißigjährige und die dynastischen Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts. Neben Tod und Verwüstung brachten sie Truppen­durch­züge und Flüchtlinge: Menschen flohen, Menschen wanderten zu.

„Der Krieg als Vater aller Dinge?“ Das mag indirekt auch gelten für den stärksten politischen Einschnitt in die Stadtgeschichte und ihre Migrationsgeschichte:
Im Zuge der napoleonischen Kriege erfolgte eine tiefgreifende Neuordnung Europas, französische Truppen zogen durch Oberndorf nach Russland und zurück, Flüchtlinge blieben hier (Grabmäler auf dem Friedhof zeugen davon). Dann kam Oberndorf an das neue Königreich Württemberg, und dessen König befahl 1811 die Errichtung einer Waffenfabrik dortselbst. Zu den rund 1.000 alteingesessenen, gut katholischen Oberndorfern kamen plötzlich 200 fremde Fabrikarbeiter aus Alt-Württemberg und anderen deutschen Gauen, ganz überwiegend „wüstgläubig“, also evangelisch - ein Kulturschock.

Noch ein Kulturschock waren, zumindest anfangs, die türkischen Offiziere der Osmanischen Armee, die in den Jahrzehnten vor und nach 1900 die Abwicklung des größten Auftrags für die prosperierende Waffenfabrik Mauser begleiteten. Die Tür­ken, die im maurisch anmutenden „Türkenbau“ residierten, genossen ein ganz ande­res Ansehen als die Türken heute – mit jenen Herren Umgang pflegen zu dürfen, trug den Honoratioren ordentlich Prestige ein.

Das 20. Jahrhundert brachte wiederum Kriege, von bis dahin unvorstellbaren Dimen­sionen, und Wanderungen, ebenfalls von bislang unbekanntem Ausmaß. Den gewal­tigen Stadtumbau im Neckartal mitten im Ersten Weltkrieg bewältigten nicht nur alt­eingesessene und neuzugezogene Oberndorfer, sondern auch kriegsgefangene Sol­daten aus den östlichen und westlichen „Feindstaaten“.

Dieser unfreiwillige Arbeitseinsatz war geradezu unerheblich gegen den Zwangs­arbei­tereinsatz während des Zweiten Weltkrieges, dessen Lebensrealitäten durch die NS-Ideologie bestimmt wurden. Rund 12.000 Menschen aus mehr als 16 Nationen durch­liefen die Lager in Oberndorf, und kurz vor Kriegsende machten die bis zu 6.000 Zwangsarbeiter 40 Prozent der Bevölkerung aus.

Nach dem Kriegsende 1945, nach Rückführung der Ausländer in ihre Heimat, kamen in großer Zahl Inländer hierher, die ihre Heimat verloren hatten. Den Krieg selbst hatte Oberndorf im Vergleich zu großstädtischen Industrieregionen anderswo ziem­lich unbeschädigt überstanden. Auch wenn die allgemeine Not groß war, die Res­sourcen am Ort waren sehr viel besser erhalten geblieben als in den Gebieten, aus denen nun Flüchtlinge und Vertriebene aus Ost­deutschland in den Südwesten kamen. Die Bereitschaft zum Teilen hielt sich bei den Oberndorfern in Grenzen. Langfristig aber förderten aber „die aus dem Osten“ den wirtschaftlichen Neuanfang: Der Wiederaufbau der Industrie startete mit Textilbetrie­ben, deren Betreiber und Fachkräfte aus Ost- und Mitteldeutschland nach Oberndorf emigriert waren.

Den Aufschwung im altvertrauten Wirtschaftszweig, in der Waffenindustrie ab den späten 1950er Jahren förderten die damals so bezeichneten Gastarbeiter, die sys­tematisch aus Süd- und Südosteuropa und dann auch aus der Türkei angeworben wurden. Besonders intensiv waren die örtlichen Beziehungen nach Spanien. Der Mittelpunkt der spanischen Community in Oberndorf, das „Centro Español“ war bis vor wenigen Jahren auch bei Ur-Oberndorfern ein äußerst beliebter gastronomischer Event. Seine Schließung war eigentlich Konsequenz einer gelungenen Integration: Die spanischstämmigen Oberndorfer brauchten keine eigenen Treffpunkt mehr.

Eigentlich hatten die ausländischen Arbeiter als „Gäste“ nur vorrübergehend bleiben sollen. Viele blieben jedoch – und inzwischen ist ihre dritte Generation herange­wachsen. Von Anfang zum Bleiben kamen die Einwanderer, die ab den frühen 1990er Jahren aus Osteuropa übersiedelten. Als Deutschstämmige sahen viele ehemalige Sowjetbürger das vereinte Deutschland als ihre Heimat an und waren begierig sich zu integrieren.

Auch nach jahrzehntelanger Erfahrung ist „Integration“ eine Herausforderung, die sich immer wieder neu bewähren muss. In vielen Fällen ist die ursprüngliche Her­kunft tatsächlich in den Hintergrund gerückt - in den „Migrations-Hintergrund“ - aber sie bestimmt immer noch die individuelle und kollektive Identität mit. Sie soll und muss nicht aufgegeben werden. Der Integrationserfolg pendelt zwischen Assimilation und mehr oder weniger sichtbarer Bildung von Parallelgesellschaften, die sich außerhalb eines gesellschaftlichen und rechtlichen Grundkonsenses stellen können oder von einer Mehrheit, die eine „Leitkultur“ erzwingen will, angegriffen wer­den.

Mittlerweile ist das Herkunftsspektrum der Oberndorfer und Oberndorferinnen riesig breit und schillernd bunt geworden. Fast ein Zehntel von ihnen besitzt einen auslän­dischen Pass, über 66 verschiedene Staatsangehörigkeiten kennt man im städti­schen Einwohnermeldeamt. Und mancher in der deutschen 91-Prozent-Mehrheit hatte früher eine andere Nationalität. Die Frage, ob eine italienische Schützenköni­gin, ein türkischer Narrenzunftpräsident, ein palästinensischer Arzt, ein kongolesi­scher Pfarrer Deutscher ist oder nicht… - „Hauptsach, se schwätzet e gscheits Schwäbisch!“

Integration ist nicht bloß eine Bringschuld seitens der Immigranten, sondern ist auch durch die Einheimischen zu erbringen. Auf erfolgreiche zehn Jahre können die Integ­rationskurse der VHS zurückblicken, in denen Menschen aus oft sehr unterschied­lichen Kulturen unsere Sprache zu sprechen und zu schreiben, unsere Kultur zu ver­ste­hen und sich mit ihrer Identität in eine gemeinsam gelebte Vielfalt einzubringen ler­nen; gleichwohl feiern sie die Feste aus ihren vielfältigen nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen. Nicht einmal ein Jahr alt, aber äußerst rührig ist die bür­gerschaftliche „Initiative Offene Hände“, die auf die jüngste Entwicklung in der langen Migrationsgeschichte Oberndorfs reagiert: auf den Zustrom von Flüchtlingen, die zumeist aus außereuro­päischen Krisengebieten stammen, aus denen Not und Ver­folgung sie vertrieben ha­ben. Noch völlig offen ist aktuell die Frage, ob „Willkom­mens-Kultur“ und beidseitiger Integrationswille oder ob Fremdenangst und -hass obsiegen.

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